Überall ist Wunderland…
Temperabilder – Faszinierende Welt zwischen Fantasie und Wirklichkeit
Untrügliches Kennzeichen der Malerei von Thomas Stamm ist die malerische Feinmechanik und Pinselakribie. Dazu bedient sich der Künstler der weichen und warmen Temperafarbe, welche er mit einer aufwendigen Streichtechnik, minuziös auf Graukarton aufträgt. Thomas Stamms Landschaften und stilllebenartigen Bilder führen den Betrachter in eine unwirkliche, fantastische Welt, auch wenn sie an die Realität anknüpfen. Am Anfang des schöpferischen Prozesses steht für den Künstler immer eine Erfahrung, ein Erlebnis, eine Idee oder ein Interesse. Quelle sind unmittelbare Eindrücke und Alltagssituationen, in der Natur, auf Reisen oder zu Hause. Das Prinzip besteht darin, dass Thomas Stamm Naturformen zum Ausgangspunkt seiner Bildgestalt nimmt und diese durch seine Fantasie umformt. Er erlaubt sich, Dinge zu modifizieren oder in verzerrter Perspektive einzufangen, um den Betrachter mit einer andersartigen Möglichkeit des Schauens zu konfrontieren.
„Sanfter Surrealismus“
Von Thomas Stamms Malerei aus liesse sich vielleicht eine Beziehung zur Welt des Traumes oder zur Kunst des Surrealismus finden. Wie in den Gemälden des belgischen Surrealisten René Magritte fahren in Stamms Bildern Schiffe über Brücken („Traghetto“), ist eine Taube mit menschlichem Ohr eben „keine Taube“, sondern eine Hörende, und herrscht auf ein und demselben Bild gleichzeitig Tag und Nacht („Eine Tagnachtbrücke“) – und dies alles mit grösster Selbstverständlichkeit. Den Künstler als Surrealisten zu bezeichnen, greift aber zu kurz: Die Umkehrungen, Metamorphosen und spielerischen Kombinationen haben nichts Schweres und Heftiges an sich. Stamm arbeitet vielmehr mit feiner Ironie, mit dezentem Witz und subtiler Pointe.
Er öffnet uns den Blick ins Ungewisse, Transitorische, ohne die diesseitige Welt in Frage zu stellen. Im Gegenteil – seine poetische Vorstellungskraft hat etwas Versöhnliches. Mit ihrer unüberhörbaren, leisen Melancholie und ihrem stillen Humor nimmt sie den Betrachter gefangen und entführt ihn in ihr unwirkliches Reich
Helmut Kruschwitz, Der Landbote, 19. Januar 1979
Seine Landschaften, realistisch dargestellt, verbergen Botschaften mit Gegensätzlichkeiten, welche es so in der Realität nicht gibt. Er ist kein ausgesprochener Surrealist, doch er verändert die uns bekannte Wirklichkeit durch seine Phantasie.
Albert Bachmann, Neues Bülacher Tagblatt, 2006
Wellkarton, Schachteln und Papiersäcke
Von ganz anderer Art sind die „umgekehrten“ Trompe-l’œil-Bilder, wo Thomas Stamm collageartig seine Malerei mit aufgeklebten Papiersäcken, Schachteln oder Wellkarton kombiniert. Es sind deshalb umgekehrte Trompe-l’œils, weil sie nicht versuchen, mittels der Malerei Gegenstände täuschend echt nachzuahmen, sondern wirkliche, im Bild verwendete Gegenstände als gemalt darzustellen. Auch hier nimmt Thomas Stamm das Spiel zwischen Realität und Fiktion auf.
Wellkartonstücke werden mit malerischen Mitteln so ergänzt, dass sich eine verblüffende Tiefenwirkung ergibt. Kartonstücke und Malerei verschmelzen zu einer zwingenden optischen Einheit, die die Collagen zu kleinen Paradestücken der bildnerischen Inszenierung von schleierhafter Räumlichkeit auf der Fläche werden lassen.
Neue Zürcher Zeitung, 1. Oktober 1986